Wie wollen wir in Zukunft leben?
Zeitenwende
Die menschgemachten klimatischen Veränderungen mit all ihren Auswirkungen oder die Pandemie der letzten Jahre jeweils für sich allein, hätten ja schon gereicht, um einen Begriff wie den der Zeitenwende populär zu machen. Aber nein: Es musste erst ein Krieg in Europa hinzukommen, damit sich so ein Begriff ein für alle Mal ins kollektive Bewusstsein einbrennen konnte.
Vor einer Klimakrise und möglichen Pandemien warnen Wissenschaftler schon seit Jahrzehnten, sie entwickeln sich aber wohl zu langsam, als dass die Mehrheit der Menschen sie als zu bedrohlich wahrnimmt. Und Menschen können gut verdrängen, falsche Hoffnungen hegen, Offensichtliches ignorieren und auch umdeuten. Ein Krieg dagegen und seine unmittelbaren Auswirkungen aber kann keiner mehr leugnen.
Zeitenwende … Was für ein Begriff! Das Ende einer Epoche, einer Ära, der Beginn einer neuen Zeit. Viele stehen fassungslos vor den einstürzenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Neubauten der letzten Jahrzehnte, dem Elend der Menschen in den Kriegsgebieten und ringen um eine Haltung, um Erklärungen, um Handlungsorientierung und Lösungen.
Das Leben vor und mit dem Klimawandel, vor und mit der COVID-Pandemie, das Leben vor und mit dem Krieg in der Ukraine: Es ist ein anderes und wird sich weiter verändern.
Abgesehen von der ursprünglich politisch gemeinten Zeitenwende: Was ist die Zeitenwende im Kleinen? Im eigenen Leben, für jeden von uns im Alltag?
Ich höre in Gesprächen von Menschen, die anfangen, ihren Rasen in Gemüsebeete zu verwandeln. Von Freundinnen, die bewusster einkaufen und nachhaltiger verwerten. Von Jugendlichen, die überraschend Fastfood und Wegwerfmode in Frage stellen und anfangen, sich über osteuropäische Staaten und ihre Geschichte zu informieren. Ich höre von Kolleginnen, die bewusst ihre Arbeitszeit reduzieren, um Zeit für Deutschunterricht, das Ausfüllen von Anträgen oder die Gänge zum Jobcenter für und mit ukrainischen Menschen zu haben. Ich sprach mit Bekannten, die angesichts der aktuellen Entwicklungen ihr gesamtes Leben überdenken, weil sie fühlen, wie unwichtig und energieaufwendig einige Ziele sind, die vorher wichtig erschienen. Ich höre von Menschen, die über die Friedensandachten sehr dankbar sind, da sie so ihr Leid mit Gleichgesinnten teilen können. Und von anderen, die, angesichts der Diskrepanz der Lebensumstände, fast peinlich berührt bemerken, jeden Tag ein Stück dankbarer zu werden.
Zeitenwandel im eigenen Leben: Eine Antwort auf die Frage, was dies sein könnte, war folgende: „Näher zusammenrücken, achtsamer werden, vergeben, das, was man hat, bewusster wertschätzen und mit den eigenen Energien haushalten. Denn es wird immer andere geben, die uns brauchen werden.“
Idil Rack